Aus dem Deutschen Architektenblatt Ausgabe 11/2010
Das seit Monaten die Nachrichten dominierende
Großprojekt Stuttgart 21 ist derzeit wohl
das meist diskutierte Thema – nicht nur in der
Landeshauptstadt. Nachfolgend veröffentlichen
wir zwei Positionspapiere: eins von den
FÜNF Stuttgarter Kammergruppen und eins von
der Kammergruppe Alb-Donau-Kreis/Ulm. Wir
bitten um Verständnis, dass wir Zuschriften
von einzelnen Kammermitglieder nur im Internet
veröffentlichen können.
Carmen Mundorff
Mit Stuttgart 21 und der Neubautrasse nach
Ulm profitiert Baden-Württemberg zeitnah von
einem Ausbau der europäischen Bahn-Magistralen.
Der Bau der ICE-Trasse Ulm – Wendlingen
mit der Anbindung an den Flughafen ist zentraler Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung
der Regionen Bodensee-Oberschwaben
und Ostwürttemberg sowie der Stadt und
Region Ulm/Neu-Ulm.
Der in den 1980er Jahren von der Region
gemeinsam erkämpfte Erhalt einer vollwertigen
ICE-Anbindung ist ein Zukunftsbaustein
für die gesamte Region und darf nicht aufs
Spiel gesetzt werden. Die aus diesem Erfolg
entstandene Planung für Stuttgart 21 ist das
Ergebnis eines fast 15-jährigen Planungsprozesses
aus Studien, Wettbewerben und Bürgerbeteiligung.
Der Vorstand und der Beirat der Architektenkammergruppe
Ulm/Alb-Donau sieht es als
wichtige Aufgabe, nicht nur faire
Entwicklung der Stadt Stuttgart. In
dieser Situation sollte die Architektenkammer
als Institution dafür sorgen, dass die Fachkompetenz
ihrer Mitglieder in der öffentlichen Debatte
wahrgenommen wird. Voraussetzung dafür
ist nach unserer Meinung ein offenerer und
differenzierterer Umgang mit dem Projekt.
Die Architektenkammer hat sich von Anfang
an eindeutig als Befürworterin von Stuttgart
21 positioniert. Sie erkannte in dem Gesamtvorhaben
große Chancen für die Stadtentwicklung
in Stuttgart wie auch entlang der
Bahnstrecke nach Ulm und sie versprach sich
als berufsständische Vereinigung wirtschaftliche
Vorteile für viele ihrer Mitglieder.
Über die Planung für den Umbau des Hauptbahnhofs
wurde in einem fairen offenen Wettbewerb
nach GRW entschieden, wie ihn die Kammer
immer fordert. So war es auch hier zunächst
eine Selbstverständlichkeit, den siegreichen Entwurf
in der Öffentlichkeit zu verteidigen.
Aus der Überlegung heraus, dass die Kammer,
wenn sie Einfluss nehmen will, von Politik
und Wirtschaft als verlässlicher Gesprächspartner
wahrgenommen werden muss, haben
die Vorsitzenden der FÜNF Stuttgarter Kammergruppen
diese Haltung der Kammerspitze
lange Zeit mitgetragen, auch wenn wir viele
Aspekte des Projekts durchaus kritisch gesehen
haben.
Dass „die Architekten“ zu Stuttgart 21 keine
einheitliche Meinung haben, ist nicht nur
kammerintern sondern durch zahlreiche Wortmeldungen
prominenter Kollegen längst auch
in der Öffentlichkeit klar geworden. Eine neue
Stellungnahme, die eine eindeutige Haltung
„der Architektenschaft“ zum Projekt wiedergeben
würde, kann es deshalb nicht geben.
Die vielen unterschiedlichen Haltungen, die
möglich und plausibel sind, sind viel klarer in
individuellen Beiträgen zu artikulieren. Wir können
als Kammer jedoch unsere Institution und
ihre Organe zu einem offenen Forum für eben
diese Meinungsvielfalt machen und damit die
öffentliche Diskussion bereichern. Die Chance,
die darin für die Wahrnehmung unserer Berufsgruppe
in der Öffentlichkeit und vielleicht
auch für den weiteren Umgang mit dem Projekt
liegt, haben wir sicher zu spät erkannt. Wir
sollten sie jetzt aber umso beherzter nutzen.
Der Schwerpunkt einer von der Kammer
moderierten Debatte würde die Themen betreffen,
in denen unsere Fachkompetenz liegt:
Architektur, Städtebau, Stadtentwicklung. Die
Vehemenz, mit der das Projekt Stuttgart 21
heute von großen Teilen der Stadtbevölkerung
abgelehnt wird, hat sicher auch mit Fehlentwicklungen
auf diesem Gebiet zu tun. Ob auf
dem Killesberg, am Marienplatz, beim „Quartier
S“ oder bei den bisherigen Planungen auf
freigewordenen Gleisarealen: Städtebau in
Stuttgart wird immer mehr als Abfolge von
Großprojekten privater Investoren wahrgenommen, auf die die Bürger keinen und die Verwaltung
wie der Gemeinderat nur geringen Einfluss
haben. Auch die Bauverwaltung des Landes,
die in der Vergangenheit so oft für hohe Baukultur
stand, scheint in einigen ihrer jüngsten
Projekten wie den Ministerien an der Neckarstraße
und am Karlsplatz nach Art eines Finanzinvestors
Grundstücksausnutzung und
Rendite ins Zentrum aller Überlegungen zu stellen.
Dies verstärkt das Unbehagen und das
Misstrauen der Bürger.
In den Debattenbeiträgen und Veranstaltungen,
die wir als Kammer anregen und organisieren,
sollte es in erster Linie darum gehen,
Alternativen zu dieser Form der Stadtentwicklung
aufzuzeigen. In vielen vergleichbaren Städten
gibt es bereits große, von der Bevölkerung
aktiv mitgetragene Stadterneuerungsprojekte
und es gibt auch in Stuttgart abseits der Großvorhaben
vielversprechende Ansätze dazu. Der
Bürgerprotest gegen Stuttgart 21, der bis heute
friedlich abläuft und von einem hohen Maß
an Neugier und Lernwille getragen ist, könnte
durchaus den Anstoß dazu geben, dass sich in
unserer Stadt dauerhaft eine neue Qualität der
Bürgerbeteiligung und des engagierten Miteinanders
bei der städtebaulichen Entwicklung
etabliert. Wenn wir mit unseren Bemühungen
hierzu beitragen könnten, wäre das ein Erfolg,
der weit hinausreicht über Stuttgart 21 – oder
was auch immer daraus wird.
Monika Daldrop-Weidmann, Thomas Herrmann,
Freimut Jacobi, Mark Phillips, Peter Schell
Vorsitzende der FÜNF Stuttgarter Kammergruppen
und transparente
Verfahren zu fordern sondern auch die
Umsetzung der Ergebnisse zu unterstützen. Neben
dem abgeschlossenen Verfahren, sehen
wir das Projekt S21 verknüpft mit der Neubaustrecke
als unwiederbringliche Chance für Ulm
und die Region. Die Qualität der zukünftigen
Anbindung an Stuttgart und den Flughafen wird
die weitere Entwicklung der Ulmer Innenstadt
mit beeinflussen. Teil des Gesamtprojekts ist
die Neugestaltung des Ulmer Bahnhofs mit der
Chance, die durch die Bahnanlagen gegebene
Zerschneidung der Stadt aufzulösen. Der Ideenwettbewerb
zur Neugestaltung des Bahnhofs
Ulm und der anschließenden Stadtviertel wird
in den nächsten Wochen ausgelobt.
Wir Ulmer haben mit der Baustelle in der
Neuen Mitte die Erfahrung gemacht, was es bedeutet,
eine Wunde in der Stadtstruktur zu nähen
und damit – neben der herausragenden
Gebäudequalität – vor allem stadträumliche
Qualität zu schaffen.
Es ist Zeit, dass nach den vielen Jahren der
Planung mit der Realisierung begonnen wird.
Jens Rannow
Vorsitzender der Kammergruppe Ulm/Alb-Donau
Überlegungen der FÜNF Vorsitzenden der Stuttgarter
Kammergruppen
Es fällt schwer, in diesen Tagen der hochemotionalisierten
Debatten um Stuttgart 21 das
Wort zu ergreifen. In der – notwendigen – Auseinandersetzung
um Legalität und Legitimität,
die Verhältnismäßigkeit von Polizeieinsätzen,
Baustopp und Volksbefragung droht ein Zielund
Ausgangspunkt des ganzen Projektes beinahe
in Vergessenheit zu geraten: Die städtebauliche